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Literatur

Mein kleiner Buchladen - frische Bücher: "Berlin Wedding. Das Foto-Buch"

Quelle: © Annette Hauschild

Mein kleiner Buchladen - frische Bücher: "Berlin Wedding. Das Foto-Buch"

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSamstag, 22.07.2017

Als ich vor einigen Tagen unweit meines Buchlädchens mit einem Freund eine Molle zischen wollte, war die Stimmung in der Eckkneipe meines Vertrauens sehr angeheizt. Eine ältere Dame, Sonnenbrille auf der Nase, Spitz auf dem Schoß, wetterte gen Tresen, am Billardtisch wurde rumort. Von der Fußballwimpelwand am Fenster her kreischte eine Frau, ein Herr lallte lautstark dagegen. Mitten im aufflammenden Tumult flog die weiße Kugel quer durch den Raum. Ein Billardspieler war unzufrieden mit seinem Stoß gewesen und ließ die Kugel prompt gen Spielautomaten sausen. Ein Handgemenge folgte, Krücken flogen beiseite und wir bemühten uns, unbeteiligt zu wirken. Saßen tatsächlich ruhig plaudernd im Herzen des Orkans.

Das kann einem kurz nach dem Zahltag im Berliner Wedding begegnen. Überrascht war ich, diese Authentizität abgebildet zu finden, transformiert in wunderbar zeitlose Fotografien. Im Kerber - Verlag frisch erschienen, vereint der Foto-Bildband „Berlin Wedding“ 16 Fotoserien zu diesem Berliner Stadtbezirk. Über ein Jahr lang recherchierten Fotografen (Absolventen der Ostkreuzschule, Fotografen oder Mitgesellschafter der einzigartigen Berliner Foto-Agentur Ostkreuz) im Wedding und folgen mit ihren Arbeiten der Tradition der sozial-dokumentarischen Fotografie, wie Enno Kaufhold in seinem beigefügten Essay analysiert. Es ist den Autorenfotografen gelungen, ein vielschichtiges Bild einzufangen, den Wedding in kleinste Splitter zu zerlegen, die sich der Betrachter selbst zu einem Kaleidoskop fügen mag.

Eine Bildfolge widmet sich den Weddinger Moscheen, eine andere einem Boxclub, eine dritte dem „Black Wedding“, eine weitere dem „Wild-wuchs“ des Bezirkes und wieder eine andere dem leeren Jobcenter. Wir durchblättern Tag- und Nachtaufnahmen, begleiten den Bürgermeister, erfahren von den Wünschen einiger Kinder, die mit ihren Eltern eine Kinderarztpraxis besuchten und dort porträtiert wurden, schlendern über den „Ku-Damm des Nordens“, an Spielcasinos vorbei bis in Wohnzimmer und Künstlerateliers hinein. Auch der für seine Kakerlaken-Rennen berühmte russische Künstler Nikolai Makarov hat sich nebst ausgestopftem Hund ablichten lassen. (In den schlossähnlichen Räumlichkeiten seiner Atelier-Etage durfte ich vor einigen Jahren das russische Neujahrsfest miterleben, unsere Kakerlake gewann).

Ich lande wieder bei den Fußballwimpeln, Billardspielern und Damen mit Hündchen. Ausgehend von Heinrich Zille und seinen um 1900 in Berlin Mitte fotografierten Motiven lässt sich Annette Hauschilds Zyklus „Last Days of Disco“ nahtlos in die oben erwähnte sozial-dokumentarische Tradition der Fotografie einordnen. Ihrem Zyklus vorangestellt sind folgende Sätze:

„Gingen in den Fabriken von Osram, AEG und Rotaprint ab den 1980er Jahren die Lichter aus, blieben viele der Weddinger Arbeiterkneipen erhalten. Annette Hauschild begab sich in die proletarischen Wohnzimmer. Im Café Morena und im Kugelblitz schloss sie Bekanntschaft mit Stammgästen, die Wolle, Micha oder Perle heißen und das Selbstbewusstsein einer vergangenen Arbeiterkultur noch immer vor sich hertragen...“

Die Serie in schwarz-weiß zeigt auf den folgenden 14 Seiten großformatige, mehrfach eine Doppelseite belegende Momentaufnahmen aus den beiden erwähnten Kneipen. Tresen und Schaufenster von innen, der Wirt nach draußen schauend, ein Gast auf ihn, ein anderer in die Kamera. Schultheißflaschen auf dem Fensterbrett aufgereiht, ein Hertha-Aufkleber an der Bar, einer auf dem Fenster. Vertrocknete Rosen in einer Vase, eine Kaffeetasse, eine Zigarette. Weiter. Ein Paar tanzend vor den Daddelautomaten, ein rauchender Gast vor der selbstgebastelten Bundesligatabelle. Ein Billardspieler, an die Heizung gelehnt, ein grinsender Trunkenbold auf der Schulter des Nächsten. Ein Jubelnder im Deutschlandtrikot, eine Frau mit gefalteten Händen vor dem Mund. Rauchschwaden, ein durchgereichtes Würstchen. Der Wirt im Profil, wie er in der dunklen Kneipe auf den Großbildschirm starrt. Zwei tanzende ältere Damen und ein Mann, der sie beinah tröstend umfasst. Ein Hund, der auf der Schwelle steht und hinaus späht. Die Kamera auf Höhe der Hundeaugen.

Zum nächsten Zahltag hab ich ein neues Ziel - das Morena und den Kugelblitz erkunden. Kommt jemand mit?

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