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Literatur

Andreas Dorau und die Musik der Anderen

Andreas Dorau und die Musik der Anderen

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSamstag, 22.07.2017

Okay, meine Besprechung von Andreas Doraus Lebenserinnerungen hat mir bei piqd einen fast schon historischen Tiefstand an Belohnungsklicks beschert, schlechter erging es mir hier bisher nur mit einem DDR-Fußballlehrbuch für Kinder, trotzdem ist es unvermeidlich, daß ich nun auch Doraus neue Platte "Die Liebe und der Ärger der Anderen" bespreche, denn wir haben ja auch einen Bildungsauftrag. Man muß es so sagen, bei Dorau hat man das Privileg, der Entstehung eines Werks beizuwohnen. Es ist maßgeblich, was dieser Künstler alle paar Jahre zur jeweils vorliegenden Gegenwart sagt, und das Tolle ist, man kann zu diesen Überlegungen auch noch tanzen, mit den Jahren sogar immer besser. Da ich zur Zeit keine Zeitungen lese und keine Medien verfolge, bis auf die herzerwärmende Teleteaching-Sendung "Bares für Rares", kann ich nicht sagen, ob "da draußen" gerade eine Doraumanie tobt, ob ich hier offene Türen einschreibe. Aber ich muß wohl davon ausgehen, daß das nicht so ist, denn ich habe kürzlich zum ersten Mal seit "Formel Eins" einen Blick in die Charts geworfen (die es tatsächlich noch gibt!), wo sich schwer Erziehbare und Überlebende ihrer Midlifecrisis tummeln (dazwischen seltsamerweise auch die Beatles mit "Sgt.Pepper"). Dorau ist irgendwo bei Platz 59 eingestiegen und in der zweiten Woche schon fast wieder rausgerutscht aus den Top 100. Das ist so ungerecht und falsch wie erwartbar. In was für einer Welt würden wir leben, wenn mehr Menschen Sinn für diese Musik hätten? Wer Dorau hört, zettelt keine Kriege an, zerrt keine Hunde am Halsband hinter sich her und fährt seine Kinder nicht im SUV in ihren Prenzlauer-Berg-Kindergarten, die Musik würde das verhindern, rede ich mir ein. Mit Doraus neuem Album habe ich nur ein Problem: es enthält lauter Ohrwürmer, und ich leide auch so schon immer wieder tagelang unter Ohrwurmbefall. Jetzt kann ich mich am Abend maximal noch entscheiden, welches Lied von dieser Platte ich über Nacht im Traum in meinem Kopf abspielen will, und tagsüber bekommt meine Freundin von mir ständig für sie völlig unverständliche Textfragmente zu hören: "Ma-riasy-billa-me-ri-an … die kommt noch heute gut an!" Zuerst habe ich das Album vor ein paar Wochen in einem weißrussischen Flugzeug nach Zentralasien gehört, was sich angemessen heterotopisch anfühlte. Die anderen Fluggäste sahen alle aus wie Tschick, der Mann neben mir skypte auf seinem Handy mit männlichen Verwandten, die kein T-Shirt trugen, Nackenkissen wurden aufgeblasen, Essen gereicht, es war plötzlich nicht mehr 11 Uhr abends, sondern schon 3 Uhr morgens, ich wußte nicht, ob ich nach der Ankunft mein gebuchtes Hotelzimmer beziehen können würde, da die Unterkunft laut booking.com keine 24-Stunden-Rezeption hatte, und Dorau sang dazu: "Dies ist nicht real ... dies ist nicht real … Ich bin tief in der Musik versunken, es fühlt sich an, als wäre ich betrunken ..." Ich hatte wahrscheinlich ein leicht irres, glückliches Lächeln auf den Lippen, weil ich nun wußte, daß ich die kommenden zwei Wochen in der postmodernen Retortenhauptstadt eines nicht gerade demokratischen Landes schon überstehen würde, ich könnte ja zur Not die ganze Zeit Dorau hören: "Wir bauen eine Stadt aus Musik/ hier in der Bundesrepublik." Wie subtil er in dieser gesungenen Utopie den sperrigen, nostalgiebeladenen Begriff "Bundesrepublik" auf "Musik" reimt! Oder wenn er singt: "Im Laufe einer Nacht kann sehr viel passieren ...", und das Klischee gleich bricht: "Man könnte zum Beispiel sein Handy verlieren." Was ein neuzeitliches Drama ist und gleichzeitig so banal, daß es die pathetische Überhöhung der Idee des "Nachtlebens" zurücknimmt. Diese Beispiele sollten jedem zeigen, daß Andreas Dorau ein großer Reimkünstler ist, dessen Spezialität eine verquere Einfachheit ist. Wer ihn deshalb zum Pop-Dadaisten erklärt, verkennt seinen kritischen, manchmal schon moralistischen Impetus, es sind ja traumatische Momente, die er besingt, wenn ein Ossi in München wegen seines Akzents beim Bestellen einer Cola von Bayern mit einem Schwan geschlagen wird, oder wenn die Polizei den Hund "Hitler" einer Punkerin erschießt, weil er nicht angeleint war: "Da rief ein Punkrockkumpane: Hitler ist tot, liegt unter der Plane." Auf "Todesmelodien" hat Dorau über jemanden gesagt: "Du bist inkonsequent!" Jetzt heißt es: "Alles, was du sagst, das bist nicht du, ich habs dir schon zu oft gesagt, du hörst nie zu …" Man ist ja täglich von vielen dieser "Du" umgeben, die sich und anderen etwas vorspielen. Dorau erzieht da zur Strenge. Er selbst hat ein so genaues Gespür für Floskeln, daß sie ihm einerseits nicht passieren, er sie aber andererseits in seinen Texten aufgreifen kann. Es gibt bei Dorau keine Klischees, weder musikalisch noch textlich, er würde sich zu sehr schämen, auf sein künstlerisches Gewissen kann man sich verlassen. Deshalb schreibt er auch fast nur Hits, wie bei Depeche Mode gibt es kein Füllmaterial auf seinen Alben. Er besitzt die seltene Gabe, (die deutsche) Sprache zu rhythmisieren, vermutlich könnte er auch den ElterngeldPlus-Antrag zu einem Dance-Hit machen, schade, daß er es nicht tut! Die Stücke bestehen manchmal nur aus wenigen Zeilen ("Liebe Bürger, liebe Rentner, seid gewarnt, das Böse hat sich heute als Mädchen getarnt, sie geht auch gerne feiern, meist drei Tage lang, und kommt sie dann nach Haus ist sie eine Woche krank"), aus denen der Song entwickelt wird, die Musik dazu erinnert an eine Zeit, als Computer und Elektronik noch keine Bedrohung, sondern ein Emanzipationsversprechen im Kinderzimmer waren. Inzwischen sind die Kinder erwachsen geworden und haben bessere Geräte, aber sie wissen immer noch genau, was sie wollen. Ich bin schon gespannt, welche Themen Dorau auf seiner nächsten Platte für popmusikwürdig erklärt. Ich bilde mir übrigens ein, daß er noch nie so gut gesungen hat, vor allem im letzten Lied "So etwas ähnliches wie Liebe". Er selbst ist ja ziemlich selbstkritisch: "Meine Stimme macht weder gute Laune, noch spendet sie Trost/ sie klingt eher matt, quäkig, ziemlich vermoost". Dem möchte ich widersprechen, mir spendet diese post-heroische, testosteronfreie, alterslose Stimme nun schon seit vielen Jahren Trost.

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Kommentare 2
  1. Ralf Splettstoesser
    Ralf Splettstoesser · vor mehr als 7 Jahre

    Ich bin sehr froh, daß mich meine Sucht nach guten Texten hier tatsächlich befriedigt findet. Ein Lob an piqd. de und an Deine (Ihre) Ausdauer. Danke.

    1. Jochen Schmidt
      Jochen Schmidt · vor mehr als 7 Jahre

      Vielen Dank!

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