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Kurator'in für: Zeit und Geschichte Flucht und Einwanderung Fundstücke
Studium der Internationalen Entwicklung und Politikwissenschaften in Wien und Münster. Beschäftigt sich mit Sicherheitspolitik und Islamismus, unter anderem bei/mit Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), Blätter für deutsche und internationale Politik, Internationale Politik (IP), Middle East Institute Washington, Atlantic Council, Clingendael Institute.
Christoph Ehrhardt war im Norden Syriens unterwegs. Genauer gesagt im Norden der Provinz Aleppo, der von der Türkei kontrolliert wird. In dieser Reportage beschreibt er nuanciert die vielen Eindrücke und Widersprüchlichkeiten, die so ein Konfliktgebiet ausmachen. Der Titel der Printversion in der FAZ lautet treffend: „Land der Lager, Bettler und Bosse“.
Mit einem dieser Bosse ist Ehrhardt unterwegs. Mahmud Alito begleitet ihn durch Azaz, eine einst kleine Stadt nahe der türkischen Grenze. Azaz hat im Verlauf des Krieges einiges mitgemacht. Erst übernahmen Rebellen die Kontrolle, dann der IS. Ende 2016 vertrieb dann die türkische Armee gemeinsam mit verbündeten Rebellen die Dschihadisten. Seither steht die Region unter türkischer Kontrolle. Die Provinz ist administrativ an die angrenzenden türkischen Provinzen angegliedert. Die Türkei bezahlt für Bildung, Polizei, Justiz und derlei mehr. Auch die Syrische Nationalarmee (SNA) wird von der Türkei finanziert. Die SNA ist so was wie die Dachorganisation der Rebellen vor Ort. Schätzungsweise 30.000 Kämpfer stehen unter ihrem Kommando. Vielleicht auch 45.000. Das weiß niemand so genau.
Zwar läuft in der Region letztlich nichts ohne türkisches Einverständnis, dennoch sind auch Syrer aktive Akteure. Die Türkei arbeitet mit lokalen Räten zusammen, die sich um alltägliche Angelegenheiten kümmern. Auch in Azaz, wo Ehrhardt mit Mahmud Alito unterwegs ist. Alito ist ein hochrangiges Mitglied der „Levante-Front“. Die Levante-Front ist die wohl mächtigste Rebellengruppe innerhalb der SNA. Und sie dominiert Azaz. Die Levante-Front ist selbst ein wirtschaftlicher und politischer Akteur. Sie kontrolliert Grenzübergänge und hat ihre Finger in allen möglichen Wirtschaftszweigen, in denen sich Geld verdienen lässt. Kein Wunder, dass Alitos Spitzname „Boss“ lautet.
Alito zeigt Ehrhardt die Sonnenseiten von Azaz. Überall wird gebaut, die Stadt ist in den letzten Jahren rasant gewachsen. Mehrstöckige Neubauten und Malls schießen aus dem Boden. Wegen des türkischen Schutzschirms sind Azaz und die Region relativ sicher. Keine Luftangriffe durch die Assad-Regierung, keine Fassbomben, kein Artilleriefeuer. Deshalb investieren wohlhabende Syrer. Die Grundstückspreise und Mieten steigen entsprechend schnell an.
Es werde schnell deutlich, „dass in Azaz nicht nur die Aufbruchsstimmung einer Goldgräberstadt im Wilden Westen herrscht, sondern auch deren Gnadenlosigkeit mit den Gescheiterten“, beobachtet Ehrhardt treffend. In Azaz gibt es nicht viele Regeln. Und wer Geld hat, wer gute Kontakte zur Levante-Front hat, kann viele der existierenden Regeln beugen. Wer hingegen kein Geld hat, sieht alt aus. Und das trifft auf die Mehrheit der Menschen zu. Über 80 % der Menschen in der Region leben unterhalb der Armutsgrenze. Überall sieht man Zelte. Ehrhardt spricht mit einem Anwalt, der in einem dieser Zelte lebt. Er könne zum ersten Mal in seinem Leben seinen Beruf ausüben, weil die Türkei das Gerichtswesen professionalisiert habe. Für eine Wohnung reicht das Geld trotzdem nicht.
Azaz und die Region stehen für Widersprüche. Deutschland und die EU lehnen Unterstützung weitestgehend ab. Man betrachtet die türkische Präsenz als Völkerrechtsbruch, als Okkupation. Ein schwaches Argument, wenn man bedenkt, wo Deutschland und die EU überall keine Probleme mit Kooperation trotz eklatanter Völkerrechtsbrüche haben.
Und dennoch: Als die türkische Armee mit den Rebellen die Region übernahm, vertrieb sie auch kurdische ZivilistInnen und verübt bis heute Menschenrechtsverbrechen an den Zurückgebliebenen. Gleichzeitig schützt die Türkei mehrere Millionen Syrer innerhalb ihres Landes vor der Gewalt der Assad-Regierung, baut Krankenhäuser, ermöglicht Bildung. Dass die Europäer sich beschweren, nachdem sie eifrig das Flüchtlingsabkommen unterzeichnet haben und für türkische Grenzanlagen bezahlten, wirkt heuchlerisch.
Was dort entlang der syrisch-türkischen Grenze entsteht, ist ungewiss. Eine dauerhafte Pufferzone unter türkischer Kontrolle? Womöglich. Aushandeln wird das die Türkei vornehmlich mit Russland.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Bild: Nasim Zaki Artikel kostenpflichtig www.faz.net
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