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Volk und Wirtschaft

Eine kleine Geschichte über den Neoliberalismus

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlDienstag, 20.10.2020

Nur wenige Begriffe sind wahrscheinlich soweit zur Schablone reduziert und wenige Denkströmungen so ihrer Komplexität beraubt worden wie "der Neoliberalismus".

„Neoliberalismus“ wird heute meist als Schimpfwort für das gebraucht, was einigen Linken am Kapitalismus nicht gefällt. So werden alle widersprüchlichen Phänomene des aktuellen Lebens wie etwa stagnierende Reallöhne, Ungleichheit oder Umweltzerstörung regelmäßig dem „Neoliberalismus“ angekreidet, als sei das ausreichend, um diese Entwicklungen und zugleich den Neoliberalismus zu verdammen.

Der Ursprung wird meist in der Chicagoer Schule der Wirtschaftswissenschaften sowie bei Ronald Reagan und Margaret Thatcher gesehen. Aber sein wissenschaftlich-intellektueller Ursprung ist eher zentraleuropäisch als anglo-amerikanisch.

Sicher, der Neoliberalismus war nie nur eine ökonomische Lehre, sondern auch (oder gar in erster Linie, wie der Autor meint) ein politisches Projekt. Teilweise hervorgegangen aus der Kritik sich später neoliberal nennender europäischer Ökonomen an den sich ausbreitenden Nationalstaaten, die aus der Auflösung der Imperien nach dem Ersten Weltkriegs hervorgingen. Als Alternative bzw. als Ergänzung zur Nation sahen sie eine Mischung von „Weltregierung“ und „individueller Freiheit des Konsumenten“.
So waren viele der Gründer der 1947 gegründeten ... Mont-Pélerin-Gesellschaft, darunter nicht zuletzt von Mises und Hayek, im Kaiserreich aufgewachsen, um der nun untergegangenen österreichisch-ungarischen Monarchie zu dienen. Sie waren unglücklich über ihre Auflösung und begannen, das alte Reich und eine weitere untergegangene Institution, den Völkerbund, als gute Modelle für eine internationale Föderation zu preisen. Solche Nationalstaatsgrenzen überschreitende Organisationen waren ihrer Ansicht nach geeignet, wirtschaftliche Einheit zwischen den Ländern herzustellen und die Vorteile einer größeren Arbeitsteilung sicherzustellen.

Folgerichtig waren die Neoliberalen vor dem zweiten Weltkrieg für die supranationale staatliche Intervention - allerdings, um die kapitalistische Ordnung und das private Eigentum zu erhalten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wollte von Mises sogar den Völkerbund in eine internationale Regierung umwandeln. Ziel - die freie Bewegung von Waren, Diensten, Geld und Menschen sichern. Damit nahm er 

die „vier Freiheiten“ des Binnenmarkts der Europäischen Union voraus. Zweifellos glaubte von Mises an die „unsichtbare Hand“ des Markts. Aber er glaubte auch, der freie Markt benötige die „eiserne Hand“ – .... – eines supranationalen Staats, um ihn zu schützen.

Viele Neoliberale (u.a. von Mises, Hayek und Robbins) schlugen eine Art „Doppelregierung“ aus nationale und supranationalen Staaten vor. 

Was sie als „kulturelle“ Angelegenheiten bezeichneten könnte nach wie vor auf nationaler Ebene geregelt werden, aber die Führung der Wirtschaft würde von der Nation getrennt und auf Weltebene verfolgt. Dieses System der „Doppelregierung“ galt ihnen als Möglichkeit, ihr Ziel zu realisieren: die Trennung der Politik von der Ökonomie.

Man versteht das Denken und Handeln der ökonomischen Strömungen nicht ohne Bezug auf die fürchterlichen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Es ging darum, eine Staatsstruktur zu finden, die es ermöglicht, solche totalen Zusammenbrüche von Märkten zu verhindern. Also keinen Minimalstaat, sondern einen neuen Typ von Staaten im globalen Rahmen. Wichtige Weichen zum Denken der Neoliberalen war das Walter Lippmann Colloquium 1938 in Paris. Wo auch der Begriff "Neoliberalismus" geprägt wurde.

Das Ziel war nicht nur, den Staat zu begrenzen, sondern die Art Staat zu entwickeln, der notwendig war, um den Zusammenbruch des Markts zu verhindern. Zahlreiche Teilnehmer der Konferenz waren sich einig, dass der sich selbst regulierende Markt ein Mythos sei, und wussten aus bitterer Erfahrung, dass ein sich selbst korrigierender Markt nicht funktionierte. Die Wirtschaft brauchte daher die Unterstützung des Staats. Schon von Beginn an war die Idee einer wirtschaftlichen Rolle des Staats über die Funktion des „Nachtwächters“ hinaus, ein prägender Bestandteil des neoliberalen Denkens.

Der Autor meint, dass man das Vorurteil, der globalistische Neoliberalismus sei „gegen“ den Staat, zwar selektiv aus den Protokollen des Kolloquiums herauslesen könne. Teilnehmer polemisierten heftig gegen die „Illusion der Kontrolle“ durch Staaten und gegen staatssozialistische Konzepte. Nur entspricht das weder der Realität noch der  Komplexität neoliberalen Denkens.

Eine kleine Geschichte über den Neoliberalismus

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Kommentare 4
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 4 Jahren

    Ja, sie haben den "Faschismus sehr unmittelbar" erlebt. Aber anders als im Artikel beschrieben.

    Ludwig von Mises: "Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben."

    Zum ersten Mal wurden ihren Theorie praktisch nach dem Militärputsch in Chile. Wachten sie dann auf?

    Im Juli und August 1978 machte Hayek seine Unterstützung für das Regime Pinochets in vier Leserbriefen an die britische Zeitung The Times publik. Dort schrieb er: „I have not been able to find a single person even in much maligned Chile who did not agree that personal freedom was much greater under Pinochet than under Allende.“ Hayek traf im Rahmen seiner Reise nach Santiago den Diktator Augusto Pinochet, den er als „honorable general“ und mehrere Regierungsmitglieder die er als “educated, reasonable and insightful men” charakterisierte.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      Na ja, Hayek war nur einer der Neoliberalen und vertrat seine speziellen Ansichten. Außerdem war der Staat unter Pinochet sicher kein Minimalstaat. Aber es ist sicher bezeichnend, wenn man eine Idee unbedingt umsetzen will, braucht es meist eines Diktators. Das unterscheidet den Neoliberalismus also nicht von anderen Konzepten ....

      Was Ludwig von Mises betrifft, in welchem Kontext und wann genau hat er denn das gesagt? Es scheint sich ja auf Italien zu beziehen.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 4 Jahren

      @Thomas Wahl Blöderweise bekomme ich die Kommentare nicht mehr als Mail.

      Das Zitat stammt aus dem Buch LIBERALISMUS (1927) und bezieht sich auf Italien und andere "Diktaturbestrebungen".

      Herbert Marcuse entwickelte daraus seine These, von der „inneren Verwandtschaft zwischen der liberalistischen Gesellschaftstheorie und der scheinbar so antiliberalen totalitären Staatstheorie“.

      Er starb 1979 bei einem Besuch bei Jürgen Habermas. Letzter nimmt nun wieder diese These auf - zur Erhellung der rechten Parteien und Bewegungen.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 4 Jahren · bearbeitet vor 4 Jahren

      @Achim Engelberg Danke für die Einordnung. Nun ja, wenn ich an Mussolini denke oder etwa Stalin könnte man auch eine innere Verwandtschaft zwischen der sozialistischen Gesellschaftstheorie und antiliberaler totalitärer Staatstheorien reden. Das sind doch ideologische Spiegelfechtereien. Versetzen wir uns in die damalige Zeit und in die suchenden Menschen und hören wir auf mit unserer oberflächlichen Kategorisierung/Moralisierung.

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