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Zeit und Geschichte

"Wofür wir kämpften, weiß ich bis heute nicht"

Emily Kossak
Journalistin

Ich studiere Sinologie im Master und schreibe hier über Gesellschaft, Politik und China.

Außerdem schreibe ich den Newsletter "How to China", mit dem du besser verstehst, wie China sich versteht.

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Emily KossakMittwoch, 09.10.2024

1994 betrachteten sich über 20 Prozent der Bewohner*innen Taiwans als rein chinesisch. Heute ist diese Zahl auf unter 2 Prozent gefallen. Unter diesen 2 Prozent dürfte viele ein ähnliches Schicksal wie Wu Yu-long haben: Als Soldat der Nationalisten floh er im Sommer 1948 vom Festland Chinas auf die Insel Taiwan. Cornelius Dieckmann hat mit jenen alten Männern gesprochen, die der chinesische Bürgerkrieg an die Küste Taiwans gespült hat. 

1912 stürzte der letzte Kaiser Chinas. Das Machtvakuum, das er hinterließ, füllten Nationalisten, angeführt von Chiang Kai-shek, und die Kommunisten, angeführt von Mao Zedong. In China brach 1927 zunächst ein Bürgerkrieg zwischen diesen beiden Seiten aus, 1937 überfiel außerdem das faschistische Japan China. Nachdem Japan sich zum Ende des Zweiten Weltkrieges ergeben musste, ging der chinesische Bürgerkrieg in seine entscheidende Phase. Den Truppen Mao Zedongs gelang es schließlich, die Nationalisten so weit zurückzudrängen, dass Chiang Kai-shek den Rückzug auf die Insel Taiwan befahl. Rund 2 Millionen Festlandchines*innen flohen nach Taiwan, eine Mammutaufgabe: Bis zu 60 Flugzeuge verkehrten 1949 täglich zwischen Festland und Taiwan, um Personen und Material zu transportieren.

Noch eine Handvoll der Überlebenden, die damals in Booten und Flugzeugen nach Taiwan übersetzten, lebt heute. So wie Wu Yu-long, der heute sagt, er sei Chinese durch und durch. 1925 wurde er in Ostchina, in Jiangsu geboren, mit nur 15 Jahren schloss er sich den Nationalisten an. Warum gerade denen? Wu sagt:

»Wofür wir kämpften, weiß ich bis heute nicht. Von Politik hatte ich keine Ahnung, ich hatte ja nicht mal die Grundschule besucht. Ich trat bei, um zu überleben.«
 Überlebt habe er eine Begegnung mit Kommunisten im Bürgerkrieg nur, weil er sich als Zigarettenverkäufer ausgegeben habe. Schließlich landete er in Taiwan, das für ihn zuvor immer Ausland war. Auf der Insel angekommen, merkte Wu: Die Götter, zu denen man betet, die Spruchbänder in den Hauseingängen: Alles wie auf dem Festland. Da habe er verstanden: "Ach, Taiwan ist auch China!" Zu den Kommunisten, seinen ehemaligen Feinden, blickt er heute bewundernd auf. Schließlich haben sie China mächtig und stark gemacht, sagt Wu. 

Nur wenige Menschen in Taiwan sind einer Meinung mit Wu. Die Kuomintang, die Nachfolge-Partei der Nationalisten, die für eine Annäherung mit China wirbt, erhält nur um die 30% der Stimmen in den Wahlen. Zwar wünschen sich viele Frieden mit China, aber nicht um den Preis der Aufgabe des eigenen Landes. So drängen die meisten entweder auf eine Erklärung der Unabhängigkeit Taiwans, oder auf der Beibehaltung des Status Quo. Insbesondere junge Leute sind gegen eine Vereinigung mit dem Festland. Gleichzeitig ist die Volksrepublik für sie nicht das wichtigste Problem: Zu den Wahlen dieses Jahr äußerten junge Taiwanes*innen eher Sorgen um Löhne und die Immobilienkrise.


Der Wunsch nach Vereinigung mit dem Festland - er wird wohl gemeinsam mit den letzten Festlandchines*innen in Taiwan sterben.

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Kommentare 3
  1. Nutzer gelöscht
    Nutzer gelöscht · vor einem Monat

    There is no better article than yours

  2. Andreas Leiner
    Andreas Leiner · vor einem Monat · bearbeitet vor einem Monat

    In diesem Artikel wird der Eindruck erweckt, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit der Taiwaner Taiwan nicht als Teil China sieht. 33% Stimmen für die Nationalisten ist keine kleine Minderheit. Gemeinsam mit der TTP, die die Unabhängigkeitsbestrebungen der DDP ebenfalls äußerst kritisch sieht, bildet sie sogar eine Mehrheit im Parlament, dem Legislative Yuan.
    Das Problem, welches wir in unserer westlichen Wahrnehmung haben ist, dass wir das Streben nach der Beibehaltung von demokratischen Freiheiten mit nationaler Identität in einen Topf werfen. Das ist nicht das gleiche.
    Man muss bedenken, dass nur 2% der Menschen in Taiwan wirklich indigen sind. Die anderen sind zum allergrößten Teil aus der Provinz Fujian auf der gegenüberliegenden Seite Chinas eingewandert. Taiwan stand bereits im 17. Jahrhundert unter der Verwaltung Fujians. Der taiwanische Dialekt entspricht weitgehend dem in Fujian. Der völkerrechtliche Status als Teil Chinas ist völlig unstrittig.
    Eine gewisse Entfremdung bildete sich nach den Massakern, die die KMT nach ihrer Flucht in Taiwan unter lokalen Bewohnern, die damals froh waren, von dem Joch der Japaner endlich befreit zu sein, anrichtete und deren Aufarbeitung erst in den 80er und 90er Jahren begann. Die DDP instrumentalisiert dies gezielt und spaltet die Gesellschaft. Lehrbücher werden umgeschrieben, gegnerische Medien aus dem Markt verdrängt. Wie sie es sogar geschafft hat, die Aufpasser von Youtube auf ihre Seite zu ziehen, so dass gezielt gegnerische Nachrichtenkanäle behindert werden, ist mir wirklich ein Rätsel.
    Ich selbst habe knapp 2 Jahre dort gelebt, habe dort Verwandtschaft und auch geschäftlich immer wieder zu tun. Auch wenn man das persönliche Umfeld nicht verallgemeinern sollte, muss ich doch sagen, dass der immer wieder vermittelte Eindruck, dass 90% der Taiwaner sich nicht als Chinesen sehen, sich in keinster Weise mit meiner Erfahrung deckt.

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor einem Monat

    Aufschlussreicher Beitrag mit guten Links.

    Im Hauptartikel steht: "Das kommunistische Regime von Xi Jinping in Peking sieht den Anschluss der Inselrepublik als letztes offenes Kapitel des Bürgerkriegs."

    Die offene Frage: Wie reagiert die Mehrheit der jungen Leute, die anderes als eine Vereinigung mit dem übergroßen chinesischen Festland wollen, wenn Taiwan angegliedert werden soll?

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