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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
„Für dieses Land, das eigentlich selbst eine Brücke zwischen Europa und Asien bildet, waren Brücken sehr wichtig. Karawanen zogen nach Istanbul und nach weiteren Städten des Orients … von den vielen Brücken jener Zeit sind zwei besonders beeindruckend: die Brücke über die Drina in Višegrad, die der hier gebürtige, bedeutende Mehmet Pascha Sokolovič im Jahre 1577 erbauen ließ, und die der Nobelpreisträger Ivo Andrić in seinem Werk „die Brücke über die Drina“ besang...“
Kürzlich fand ich den großformatigen Bildband "Jugoslawien" in meinem Laden, 128 Seiten, 1984 im Verlag Slovart herausgegeben, in Bratislava gedruckt und aus dem Bestand der Bezirksbibliothek Berlin Mitte makuliert. Zwischen Dubrovnik und Mostar (Front- und Backcover) stecken eine Karte des riesigen Landes, Kapitel zu den Republiken, ein historisch kultureller Abriss und Dutzende Farbfotografien, auf denen Schätze Jugoslawiens gezeigt werden, die Adria und ihre Inseln, die schönsten Städte, slowenische Bergkirchen, berühmte Brücken und Moscheen, römische und mittelalterliche Bauwerke. Die Brücke über die Drina wird im Text erwähnt, eine doppelseitige Abbildung erhielt jedoch nur die zweite der besonders beeindruckenden Brücken Bosniens – jene in Mostar.
Aus der Stadt an der Drina stammt ein Autor, der auf Deutsch über seine Herkunft schreibt. Saša Stanišić hatte bereits im Debüt-Roman Wie der Soldat das Grammophon repariert über Višegrad berichtet, über das Vertrieben werden und Ankommen, das Vermissen. Einmal habe ich diese Stadt besucht und wollte etwas von ihm dort entdecken, einen Spielplatz, einen Schulhof oder wenigstens einen Wels mit einer Nickelbrille. Lesen muss ich seitdem alles von ihm. Nun dieses Buch, wieder, noch mal, viel genauer – woher stamme ich, was macht mich aus, wer waren meine Vorfahren. Warum ist mein Vaterland auseinandergebrochen?
Eine Million zweihunderttausend Einwohner Jugoslawiens hatten bei der Volkszählung von 1981 angegeben, Jugoslawen zu sein, berichtet der Bildband, im ganzen Land wohnten gut acht Millionen Menschen. Das Land ist verschwunden, heute füllen die Reiseführer Regalmeter zu den einzelnen Nachfolge-Republiken, wobei Kroatien dank des Meeres weit vorn in der Gunst der Europäer liegt. Zurück zum Roman. Angeregt durch ein Formular, welches ihn nach seiner Herkunft befragt, zieht der Autor Schlüsse. Irrational, poetisch, launisch. Der Krieg scheint auf zwischen den Zeilen, in den Gesten der Kinder, in Nebensätzen. In seinem Kapitel "Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volke" springt Saša Stanišić mit großen Schritten über die Geschichte des Balkans, zieht verblüffend knappe Schlüsse. "Alle sind hier irgendwann aufmarschiert, alle! Haben sich breitgemacht, wurden besiegt (oder auch nicht), zogen sich zurück. Und sie alle ließen etwas da." Und zum Konflikt, der dem 1978 in Bosnien/Jugoslawien Geborenen die Heimat nahm:
"Spätestens nach Titos Tod in den Achtzigern taten sich Lücken auf in der multiperspektivischen Erzählung Jugoslawiens und Risse im Fundament der Föderation. Mit Parolen der Einheit und Brüderlichkeit waren vor allem die wirtschaftlichen Gräben nicht zu schließen... Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potential der Nationalismen nicht länger stand."
Vom Roman wechsle ich zum Bildband. Ich sehe den Basar in Skopje, die bunte Moschee von Tetovo, Dächer von Ulcinij, die Festung Kalemegdan in Belgrad. Belgrad, das war die Hauptstadt des kleinen Jungen, der mit seinem Vater die Spieler von Roter Stern anfeuerte. Belgrad, die Stadt, in die beide im April 1991 fuhren, um das Rückspiel im Halbfinale des Europa-Pokals der Landesmeister gegen Bayern München zu sehen. Achtzigtausend Menschen jubelten, als die Spieler von Roter Stern in Führung gingen – diese waren ein Serbe, ein Montenegriner, ein Mazedonier und "ein Jugoslawe wie ich: Mutter Serbin, Vater Kroate." Und weiter:
"Was für eine Mannschaft! So eine wird auf dem Balkan nie wieder möglich sein. Nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden in jedem Land neue Ligen mit schwächeren Teams, die besten Spieler wechseln heute jung ins Ausland."
Saša Stanišić beschreibt in seinem Roman Episoden der Herkunft, skizziert einzelne Familienmitglieder, hier erhält die Mutter drei, vier Seiten, dort der Vater, da die Großeltern. Werden manchmal nur die Umrisse gezeichnet, wird an anderer Stelle ein detailliertes Ölgemälde in die Berge über Višegrad gemalt. Es sind sinnliche, traurige und mitunter sehr komische Bilder. Mich hat besonders die Erzählung der Mutter gerührt, ihr letzter Tanz mit dem Vater im heimischen Garten, die Flucht mit dem Kind, das Nicht-Ankommen in der Ferne. Schulzeit und Jugend in Heidelberg sind die zweite Ebene des Buches, eine dritte das Abdriften der greisen Oma in die Demenz und die Besuche des Autors in ihrem Wohnort, seiner Geburtsstadt Višegrad.
Dort wird es plötzlich ganz verrückt, der Autor spielt mit uns! Wir dürfen auf den letzten 55 Seiten den Ausgang der Geschichte, die das ganze Buch trägt und zusammenhält – seine Großmutter Kristina nimmt Abschied – mitgestalten. In "Drachenhorst" entscheidet der Leser, wie die Figuren handeln und liest je nach gewählter Variante auf einer anderen Seite weiter, das ist fantastisch und großartig!
Am Ende versöhnt mich das Buch mit seiner eigenen Trauer, die immer wieder aufscheint. Ich bin in Višegrad an einem Hang durch das leerstehende Kurhotel gestromert, habe Graffitis fotografiert, eine Uhr und die klappernden Fensterläden. Im Kapitel LÄMMER las ich, wie der Junge mit seiner Familie grillte, einen Ball ins Feuer kickte im Mai 1990, auf einer Waldlichtung am Kurhotel.
"Unbeschwert ist an Višegrad für mich kaum ein Ort mehr. Kaum eine Erinnerung nur persönlich. Kaum eine kommt ohne Nachtrag, ohne eine Fußnote von Opfern und Tätern und Gräueltaten, die sich dort abgespielt haben. Was ich einmal empfunden habe, ist vermengt mit dem, was ich über den Ort weiß. Ich kenne Gerichtsurteile zu den Ereignissen der Kriegsjahre in der Gegend. Ich habe von den Schmerzen gelesen, die mit Fingernägeln in die Wände geritzt wurden, den Nägeln jener Frauen, die hier im Kurhotel festgehalten wurden.
Meine Kindheit lässt sich nicht anders als dissonant erzählen. Ein Ball im Feuer ist nicht bloß ein Ball im Feuer. Im Wald hat man sich nicht bloß im Spiel versteckt. Ich habe mir diese Motive gesucht."
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