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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
Der Junge sah sie an. Seine Augen waren grün, die Pupillen mit einem feinen braunen Rand umzogen, der zu pulsieren schien. Die einzige Art von Erregung, die man ihm ansah. Sein Blick tastete ihr Gesicht ab, als sehe er es zum ersten Mal, er schien eine Karte davon anzufertigen. Die Karte einer unbekannten Insel, die er überraschend entdeckt hatte und vielleicht erkunden würde, wenn sich die Gelegenheit ergab.
Juni bis September 2017, das ist der Zeitrahmen, den Alexander Osang seiner Figur Konstantin gibt, um seine Familiengeschichte zu erforschen. Würde man die im heute verankerten Kapitel (alle sind mit dem jeweiligen Ort, Monat und Jahr überschrieben) hintereinander weg lesen, wäre der Roman gewöhnlich. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis des frisch bei Fischer erschienenen Wälzers zeigt, dass sich zwei Handlungsstränge kreuzen: am Beginn steht Gorbatow, Russland, Februar 1905. Es folgt: Berlin, Juni 2017.
In einem Interview erzählt Alexander Osang, dies sei sein grundsätzlichstes und privatestes Buch. Der fünfte Roman des 1962 in Ost-Berlin geborenen Autors und Journalisten geht seiner eigenen Herkunft nach; auch sein Urgroßvater wurde 1905 von zaristischen Mördern in Russland gepfählt, auch seine Großmutter blieb ihr Leben lang auf der Flucht. Mehr als hundert Jahre umfasst diese sich an verschiedenen Flüssen abspielende Saga - Bruchstücke der Überlieferungen und Mythen der eigenen Familie verwebt der Autor zu einem breiten Strom. Einer prosaischen Aufarbeitung des prä- bis postsozialistischen Kosmos.
Der Roman setzt ein mit dem Mord am Revolutionär Viktor Krasnow. Frau, Tochter und Sohn fliehen aus der Stadt. Jelena ist zwei Jahre alt. Zum Prozess gegen die Mörder kehren sie zurück, ohne Bruder, mit neuem Mann und Halbgeschwistern. Aus dem störrischen, einsamen Mädchen wird eine mit fünfzehn Jahren früh Erwachsene.
Sie trafen sich nun jeden Nachmittag auf dem Steg, wo sie niemand störte. Die Fähre legte um diese Jahreszeit nur zweimal an. Im Morgengrauen, wenn sie die Arbeiter aufs andere Ufer nach Rescheticha brachte, wo zwei große Fabriken standen, und in der Abenddämmerung, wenn die Arbeiter zurückkamen. Die Tage wurden nur langsam länger, und es war immer noch kalt. Niemand im Ort wusste, dass die Tochter des toten Helden ihren Kopf in den Schoß des Sohns des gerichteten Mörders legte.
In der Gegenwart schlurft Konstantin durch sein ostdeutsches Erbe, Ex-Schwiegermutter in Karlshorst (wo der Dünkel überlebt hat), Vater dement im Pankower Altersheim am Bürgerpark, die kalte Mutter (sie hatte ihm immer zu viel zugetraut, deswegen war sie heute so enttäuscht von ihm) verfolgt von Dämonen, die Tanten tot oder verrückt. Konstantin kommt beruflich nicht voran und ist seinem Sohn peinlich - er legt eine Pause ein, interviewt Verwandte, reist nach Westdeutschland, Polen und Russland. Wie sein Erfinder und Alter-Ego. An die 20 Jahre habe er sich mit dem Roman beschäftigt, sagte der Autor dem Deutschlandfunk Kultur und lässt seinen mehr als zehn Jahre jüngeren Protagonisten im Zeitraffer Spuren suchen. Sein ostdeutscher Problembär (so nannte die taz den Helden seines früheren Romans "Königstorkinder") ist wenig entschlussfreudig oder erfolgreich. Jelena/ Elena/ Lena hingegen wächst uns schnell ans Herz - ihr Schöpfer beherrscht die hohe Kunst der Liebes-Beschreibung.
Die eleganten Wörter, die der Junge benutzt hatte, seine klaren, leuchtenden Gedanken passten nicht zu der schäbigen Kleidung, die er trug. Sie hatte die Schönheit unter der abgewetzten Fassade freigelegt, sie hatte immer gewusst, dass sie da war, die Schönheit, dachte Jelena. Sie hatte sie aus dem Jungen herausleuchten sehen. Sie beugte sich über ihn. Sie sah die Wolken, die sich in seinen Augen spiegelten, verschwinden. Ihre dicken Haare fielen auf sein Gesicht. Sie spürte den weichen Bart auf der Oberlippe, als sie ihn küsste, sie schmeckte den süßen Alkohol in seinem Mund, sie wollte ihn unter sich begraben, in ihm verschwinden, alles gleichzeitig, ein unbekanntes, berauschendes Gefühl, das sie früher als erwartet aus Gorbatow heraustrug.
Auf dieser zitierten Seite 76 sind wir bei Alexander, dem Sohn des Mörders, und seinem "Füchslein", welches sich bald zur Elena Silber mausern wird und anderen Flussläufen folgen. Sie wird stark sein oder schwach, apathisch, feige, ungerecht und wieder mutig, schön und zärtlich - nur wir Leser werden all das erfahren. Wenn mich das Panorama an Jenny Erpenbecks großartigen Roman Aller Tage Abend erinnert und die Schilderungen der 30er Jahre in der Sowjetunion vor allem an Yvonne Hirdmanns Buch, so schafft Alexander Osang mit diesen 620 Seiten etwas für mich sehr Kostbares. Die alte Frage "wer sind wir?" scheint mir neu gestellt. Wir sind nicht nur die Summe aller Ereignisse, die uns und unseren Vorfahren geschehen sind... ich lese in diesem Roman einen kraftvollen, lebensbejahenden Part mit, der mir zuruft: wir sind auch, wie wir lieben!
Den halben Roman später denkt Konstantin an den Tag seiner Jugendweihe, an die seltsame Rede, die sein Vater ihm vor der versammelten (Silber-)Familie gehalten hatte, und die peinliche Stille danach, in welche die greise Baba (wie Lena Silber inzwischen von ihren vier Töchtern und deren Anhang genannt wird) sagt:
Als ich war fünfzehn Jahre, ich traf Jungen. Name war Alexander, Sascha. Hatte Vater verloren wie ich. War klug, klügste Junge, den ich getroffen habe in Leben. Hatte grüne Augen, kurze Haare und war sehr dünn. War auch sehr traurig, aber ich auch. Er musste weg, kam wieder und ich wartete. Nächster Sommer war der schönste Sommer im Leben.
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