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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
„Es fing damit an, daß ein Unbekannter auf der Straße vor mir stehenblieb und das Wort an mich richtete. Er fragte, ob ich mich in der Stadt auskenne und ob ich ihm sagen könne, wo das Haus der Kindheit sei. Was soll das sein, fragte ich überrascht, ein Museum? Wahrscheinlich nicht, sagte der Mann. Vielleicht eine Schule, fragte ich weiter, oder ein Kindergarten? Der Mann zuckte die Achseln... Warum suchen Sie dieses Haus? fragte ich, um einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Ich habe dort zu tun, sagte der Mann, ich werde alt. Er zog höflich den Hut und entfernte sich. Ich ging weiter, indem ich über seine letzten, etwas rätselhaften Worte nachdachte, und bog aus Zerstreutheit in eine falsche Gasse ein. Als ich ein paar hundert Schritte gemacht hatte, sah ich das Haus.“
Zwischen Romanen von Thomas Pynchon, Philipp Roth, James Baldwin und Umberto Eco entdeckte ich vor ein paar Tagen in einer frisch herein gekommenen Bücherkiste „Nicht nur von hier und von heute“ von Marie Luise Kaschnitz. 1973 im Ost-Berliner Union Verlag erschienen, vereinigt der knapp vierhundert Seiten umfassende Band ausgewählte Prosa und Lyrik der Autorin. Das Buch landete auf meinem Nachttisch, da mir eine Zeile der Inhaltsangabe „Der König der Aale“ verheißend erschienen war – etwas ganz anderes aber erwischte mich wie ein Keulenschlag. Zwischen den Seiten 33 und 137 befindet sich in dieser Ausgabe Kaschnitz’ 1956 im Claasen Verlag veröffentlichter autobiografischer Roman „Das Haus der Kindheit.“
Beginnend mit den obigen Zeilen erzeugt die Autorin einen klaren Rahmen für ihre skurrile Erzählung. Die Ich-Erzählerin lebt als freie Journalistin irgendwann nach dem zweiten Weltkrieg in einer unbestimmten Stadt. Die Suche des Fremden nach dem „Haus der Kindheit“ hat sie auf die Spur gebracht, fortan umkreisen ihre Gedanken das Museum, bald betritt sie es. Es sei noch nicht vollständig eingerichtet, scheint Aussehen und Standort zu verändern, notiert die Erzählerin in ihren Aufzeichnungen. Sie beginnt, das geheimnisvolle Museum täglich zu besuchen, verbringt mehr und mehr Zeit dort. Bald wird klar, dass das Museum allein für sie existiert, nur ihr spezielle Episoden aus ihrem Leben vorspielt, erläutert, nachgestaltet. Dabei wird ihr nicht alles verständlich, manche Szenen bleiben ihr fremd. Sie begreift die Vorführungen im Museum als Lernprozess, als Aufgabe, die sie erfüllen soll. Zwischen Mitte Oktober und Ende März des darauf folgenden Jahres verbringt sie ganze Tage im Museum, zwischen den Besuchen notiert sie ihre Eindrücke in einem kleinen Café am Ende der Sackgasse, in welcher sich das Museum befindet. Der ältere Kellner, der sonst keine Gäste zu bewirten scheint, kommt ihr irgendwie vertraut vor und kümmert sich außerordentlich um ihr Wohlergehen. Richtet nach einiger Zeit ein Zimmer für sie her, im oberen Stockwerk gelegen. Ihre Besuche im Museum, welches sie zärtlich Hadeka nennt, ähneln tatsächlichen Ausflügen, sie läuft über Felder und Wiesen, deren Gräser über ihrem Kopf wogen, schaukelt kopfüber mit auf dem Boden schleifendem Haar, betritt ihren alten Schulhof und sieht sich selbst, ein unsicheres, dickes Mädchen von zehn Jahren. Oder als kleines Kind, mit dem noch kleineren Bruder unter dem Flügel sitzend, auf welchem die Mutter spielt. So etwas habe ich bisher noch nicht gelesen. Das eigene Leben als Aufführung, als Rätsel, welches es in einem Museum zu ergründen gilt! Ein wunderbarer Einfall und eine literarisch gelungene Ausführung, welch großartige Sprache, welch gewundenen Satzschleifen uns durch das Haus ihrer Kindheit führen, und wieder hinaus in die Sackgasse zu dem wunderlichen Kellner, der des Abends mit einer Wärmflasche wartet.
Das reale Leben entgleitet der Ich-Erzählerin, sie verwandelt sich allmählich in das Kind, das sie war. „Ich begreife nicht, daß ich noch vor kurzem durchaus fähig war, geschäftliche Dinge mit einigem Scharfsinn zu erledigen.“ Dementsprechend bereitet der Kellner nunmehr leichte Speisen für sie zu, Milchreis mit Zimt, Grießauflauf, Kartoffelbrei mit Apfelkompott und dergleichen. Das Rauchen gibt sie wie nebenbei auf, da Nachschub an Zigaretten schwer zu beschaffen sei. Die Erlebnisse im Hadeka fordern all ihre Sinne und Kraft, denn nicht nur „Edelsteine“ gibt es zu erleben (ein lichtgrünes Blattgeflimmer, dazu Faulbaumblütengeruch und ein ferner unzählbarer Kuckucksruf) – sondern auch „eine Reihe von höchst banalen Erlebnissen, die aber im Hadeka, auf die üblich dramatisierende Weise dargestellt, den Charakter von Katastrophen trugen.“ Zum Beispiel eine Schwimmstunde, bei welcher zitternde Kinder, einen Strick um den Leib gebunden, in eine schwarze Wasserfläche gestoßen werden. „Graugrüne Strudel umgaben mich, dann wieder Luft, dann wieder das andere, Entsetzliche, in dem man erstickt.“
Ein Text, der mich, wie wahrscheinlich jeden Leser zu jeder Zeit, zurückwirft in die eigene Kindheit, diese dunkeln und süßen Fragmente, die wir ein Leben lang mehr oder weniger erfolgreich zusammen zu puzzeln versuchen. Zu begreifen versuchen, warum wir geworden sind, was wir sind. Marie Luise Kaschnitz war zur Zeit der Veröffentlichung ihres Romans 55 Jahre alt, für ihre Gedichte, Romane und Essays einem breiten Publikum bekannt und ausgezeichnet. Sie lebte zwischen Schwarzwald und Rom und setzte sich bis zu ihrem Tod 1974 mit Fragen der Identität - auch immer wieder der Kindheit - auseinander. Ihr mystischer kleiner Roman entlässt uns in unsere Leben zurück, mit Geschenken wie diesem:
„Man hat mich nicht fortgeschickt. Man hat die Lampen nicht ausgelöscht und mich auch keinem Examen unterzogen. Statt dessen habe ich etwas ganz Neues zu sehen bekommen, eine Landschaft wie im Vogelflug, zwischen zwei Gebirge gebettet, Abhänge gegen den Strom geneigt, mit Wein und Kastanien, einen Dom aus rotem Sandstein und Wiesen, auf denen ein golddurchleuchteter Sommernebel lag. Ich habe das alles erkannt und auch wieder nicht, es war so neu und jung… und weil ich noch einmal und vielleicht zum letzten Mal die Augen eines Kindes hatte, waren die Berge höher, die Täler tiefer, glitzerte der Lindenschattten geheimnisvoller, hing der blutende Christus einsamer über dem Korn.“
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Liebe Anette Hahn,
als alter, durchaus auch im direkten Wortsinn, Fan von Marie Luise Kaschnitz hat mich Dein Beitrag sehr angesprochen. Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal irgendetwas über "die Kaschnitz" gelesen habe. Sie war in meiner Jugend eine eine wichtige Gegenstimme innerhalb der aufgeregt- hysterischen Theoriediskussion dieser Jahre, speziell mit ihren semi-autibiografischen essayistischen Texten wie "Wohin denn ich", "Tage Tage, Jahre" und "Orte. Aufzeichnungen". Ihre späten Gedichte gehören ohnehin zu meinem (privaten) Kanon. Daher möchte ich Dich noch auf eine sehr schöne Lesung des Romanes mit Rosemarie Fendel, erschienen im Audio Verlag, hinweisen.