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Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).
Seit längerer Zeit schon gehe ich nachts spät schlafen, um vorher noch was über die extrem bibliophile Proust-Neuübersetzung schreiben zu können, die Stefan Zweifel für Die Andere Bibliothek unter dem Titel „Das Flimmern des Herzens“ (wie Proust seine „Suche nach der verlorenen Zeit“ ursprünglich nennen wollte) erledigt hat. Allein der Respekt ist riesengroß. Die Publikation steckt in einem Schuber: Wenn man das Buch aus ihm herauszieht, steht da in Großbuchstaben „COMBRAY" auf dem schlangenhautartig gemusterten Hardcover, dem ein Zettel von Christian Döring beiliegt (eine Mischung aus Grußwort und Gebrauchsanleitung, unterzeichnet mit „Lesen Sie wohl“), und ein „Placard 1“, ein Poster des original von Proust korrigierten Druckbogens von 1913.
Im "Flimmern des Herzens" geht es nun darum, wie aus diesen erstmals ins Deutsche übersetzten Fahnen "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" werden konnte: um die Rekonstruktion und Gegenüberstellung besagter Druckbogen mit Prousts aufwendigen Korrekturen und Neu-Anordnungen des Werkes (die so weit gingen, dass er ganze Seiten mit Neufassungen an die Bogen nähte und für dadurch entstehende Mehrkosten selbst aufkam). Auf Doppelseiten stehen jeweils rechts (in blau) die "Unkorrigierten Druckbogen von 1913, Placards 1 bis 29 vom 31. März bis 25. April 1913 aus der Fondation Martin Bodmer in Cologny" und links (in rot) die "Korrigierten Druckbogen von 1913, Placards 1 bis 29..." usw.
Woraus sich eine literaturwissenschaftliche Detektivarbeit im Parallel-Lesen ergibt, die einen Einblick in Prousts Schreiben und Denken ermöglicht. Super allein schon der Kampf um den weltberühmten ersten Satz:
"Lange Zeit ging ich zu guter Stunde zu Bett." wird gestrichen. Und handschriftlich durch die Passage "Während mancher Jahre, las ich, am Abend, als ich zu Bett gegangen war, ein paar Seiten in einer Abhandlung über Archäologie von Monumentalbauten, die neben meinem Bett lag..." ersetzt, die dann aber auch wieder gestrichen wird und erneut durch "Lange Zeit ging ich zu guter Stunde ins Bett" ersetzt wird, alles noch mal gestrichen und noch komplizierter wird (plus anderthalb Seiten Fußnoten zu dieser Stelle).
Man gewinnt dabei eine gute Außenperspektive auf die Gefährlichkeit des Schreibens für den von der Literatur infizierten Geist. Was auch für das Übersetzen gilt. Denn wenn ich ehrlich bin, begeistert mich an diesem 696-seitigen Prachtband vor diesem Hintergrund vor allem das Vorwort von Stefan Zweifel (der mal als Literatur-TV-Moderator wegen eines Disputs mit Elke Heidenreich um ein falsches Heidegger-Zitat zu Unrecht seinen Posten beim Schweizer Fernsehen verlor). Hier gelingt Zweifel eine grandiose Selbstauskunft, die einen dazu verleiten könnte, zu denken, der Übersetzer hätte mit fast schon gespenstischer Zwangsläufigkeit bei seiner Herkules-Arbeit den Verstand verlieren müssen:
... So wird Proust, das Subjekt, zum Subjektil, zum Druckbogen selbst, über den sich die "jets" seiner Tintenspuren ziehen wie einst der silberne Faden, den der Erzähler im Abtritt seines Hauses aus sich selber zog; damals, als zunächst ein Flieder, dann die wilde Johannisbeere durch die Öffnung des Fensters klafften, in dem phallisch der Wehrturm einer Ruine ragte, in der sich - so wird der Erzähler tausende Seiten später erfahren - die Kinder der Gegend erotischen Ausschweifungen hingaben, was Proust zunächst mit einer "unzüchtigen" Geste von Gilberte neben dem grünen "Spritzschlauch" andeutete. Oder auch im Namen "Troussainville"; aber das war wohl des Guten zu viel, und statt gleich unter die "geschürzten" Röcke zu blicken, erfindet er auf den Druckfahnen den vielstimmigen Ortsnamen "Roussainville le pin", in dem sich die phallische Pinie mit den heiligen ("saints") Brüsten ("seins") der Mädchen und dem rötlichen Haar ("rousse") von Gilberte überlagern, gipfelnd im opalfahlen Ejakulat des Tintenflecks.
Wenn man dieses Kapitel "Wahre Bibliophilie" aus der Einleitung liest, fühlt man sich erstens ein wenig wie Brad Pitt in "Sieben", als ihn Morgen Freeman zwingt, auf der Suche nach einem hochliterarisierten Serienkiller im Auto Dante zu lesen, bis Pitt die Nerven verliert und das schmale Erläuterungsbändchen zur "Göttlichen Komödie" wütend auf den Beifahrersitz feuert.
Oder man kommt sich zweitens wie der schwedische Musiker Yung Lean vor, der jüngst im Interview darüber Auskunft gab, wie er die Biographie von Elon Musk las, als er in der Psychiatrie saß. Dort las Yung Lean (bekannt unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit Frank Ocean!) nur die ersten beiden Seiten, die aber immerhin an die sechzig Mal. Und glaubte danach, er hätte das ganze Buch gelesen. Und wüsste jetzt alles über Elon Proust (oder Marcel Musk).
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Was für ein schöner Piq-Text. Vielen Dank.