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Literatur

Enteignung

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelSamstag, 13.04.2019

Für die neue Folge meiner Literaturkolumne Bad Reading im linken Meinungsmedium "Freitag" (sorry, geht doch weiter) habe ich ausnahmsweise mal keine Bücher gelesen, sondern etwas genau so aus der Zeit Gefallenes gemacht: Fernsehen. Vier Wochen lang guckte ich mir Bücher-Sendungen wie das Literarische Quartett (mit Robert Habeck), Unter Büchern (mit Katrin Schumacher) oder Gottschalk liest? (mit Thomas Gottschalk) an.

Dazu noch eine Lesenswert-Folge des unvermeidlichen Denis Scheck mit dem österreichischen Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker, die der SWR aber inzwischen aus der Mediathek gelöscht hat, weswegen ich unten auf einen Talk desselben Autors mit einem mir unbekannten MDR-Moderator auf der Leipziger Buchmesse verlinke.

Reinhard Kaiser-Mühlecker sieht aus wie eine Mischung aus dem glücklosen Schalker Bundesliga-Profi Sebastian Rudy und dem britischen Schauspieler Robert Carlyle (Trainspotting, Hitler). Tatsächlich aber hat er mit "Enteignung" (S. Fischer) den einzigen Roman geschrieben, den ich in den letzten vier Wochen gelesen habe.

Aufgrund des Titels könnte man meinen, dass es der Roman der Stunde ist, aber das ist falscher Houellebecq-Alarm.

Denn bei Kaiser-Mühlecker geht es immer um die Rückkehr aus der Gegenwart (Großstadt, Karriere, Abfuck) in die Vergangenheit, also Heimat (Provinz, Landwirtschaft, Abfuck). In einer bewusst aus der Zeit gefallenen, ruhigen bis maulfaulen Sprache werden ganze Familiendramen in der inzestuösen Enge des psychologiefernen Hinterlands lakonisch runtererzählt, was mir bei seinem Erstling, "Der lange Gang über die Stationen“, noch gut gefiel, beim zweiten, "Magdalenaberg", aber bereits als Masche auf die Nerven ging.

Auch bei "Enteignung" geht es zunächst wieder um Rückkehr und Bauernhof: Der Titel verweist auf einen Schriftzug, den ein Schweinebauer aus Protest gegen die Verdrängung durch einen Windradpark sinnlos auf einer Hügelkuppe installiert hat, wo er nur vom Ich-Erzähler des Romans (Jan, Journalist) gesehen werden kann, wenn der mit einem Sportflugzeug seine Runden dreht.

Wegen dieses Ich-Erzählers wollte ich dem Buch allerdings noch mal eine Chance geben. Jan ist ein ehemaliger Top-Journalist und Auslandsreporter für SZ bis FAZ, den die Medienkrise oder leichter Burnout zurück zur Lokalzeitung seines Heimatorts gespült hat. Dort lebt er im Haus seiner verstorbenen Tante allein mit einem Kater, schreibt seine Glossen in fünf Minuten mit Spracherkennung runter und bemüht sich ansonsten um die Fortführung eines coolen City-Lifestyles mit möglichst wenig Einheimischen- & Ehemaligen-Kontakt. Lieber frönt er seinem Distanz-Hobby, der Sportfliegerei, und vögelt ab und zu mit Ines, einer Single-Mom, die er im Supermarkt getroffen hat und die genauso wortkarg und unverbindlich ist wie er.

Dinge ändern sich, als Jan rausfindet, dass Ines nebenher auch noch eine Affäre mit einem verheirateten Landwirt hat, dem von der titelgebenden Enteignung bedrohten Schweinebauern Flor. Das kann der Ich-Erzähler im ersten Augenblick kaum glauben kann, nur um dann im zweiten Augenblick (und typischen Roman-Schachzug) die persönlich empfundene Demütigung noch zu erhöhen, indem er als unbezahlter Praktikant bei Flor auf dem Hof anfängt.

Dort interessiert er sich, gemeinsam mit seinem Autor Kaiser-Mühlecker, sofort mehr für Schweinezucht als für Journalismus, sowie – roman-naturgemäß – irgendwann auch für Hemma, die Frau des Flor: Flucht in die Tat aus dem Gefängnis der Gedanken. Wenn hier überhaupt etwas empfunden wird, dann oft mit der Schlichtheit von Schlagersongs und das klingt dann so:

Denn es beschäftigte mich nicht mehr, dass Flor mit Ines schlief, und dass es das überhaupt je getan hatte, kam mir nahezu unwirklich vor. Seltsam, wozu diese einmalige, plötzliche Aufwallung geführt hatte … Ich selbst sah Ines tatsächlich nicht mehr, die letzten paar Male waren eine Enttäuschung gewesen – ob auch für sie, konnte ich nicht sagen –, die man nicht wiederholen musste. Schon als ich die beiden in der Hütte beobachtet hatte, hatte sie für mich jeden Reiz verloren gehabt.

Weshalb hörte ich nicht auf, für Flor zu arbeiten? Warum war ich ihm zur Hütte gefolgt? Nicht Ines‘ wegen … Irgendwas hielt mich, und ich wusste oder bemerkte lediglich, dass dieses Irgendwas stärker war als alles andere in meinem gegenwärtigen Leben.

Und dennoch – weichgekocht von der ganzen prätentiösen "Schöner Schreiben"-Scheiße der Literatursendungen? – habe ich diesen Roman gern gelesen, in dem Kaiser-Mühlecker sich ganz am Ende wie nebenbei von einem Erzählprogramm und der Gegenwart verabschiedet:

Ich sah dem Wasser zu, wie es kam und ging und verspürte so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas Ganzem in meinem Leben oder danach, dass mein Leben ein Ganzes sei. Nach einer Weile verflüchtigte sich diese Empfindung, und mir kam es nur folgerichtig vor, denn es gab nichts Ganzes. (...)

Im Radio liefen die Nachrichten, und ich stellte mir vor, wie es wäre, diese Sendung in fünf oder zehn Jahren oder auch erst einigen Jahrzehnten wiederzuhören, und auf einmal kam jeder Satz mir unwirklich vor, geradezu unwahr, ohne Sinn, jedenfalls ohne Bedeutung, und ich stellte das Radio leiser.


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