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Literatur

Eine kurze Ostergeschichte ohne sieben Morde, aber mit sechs Übersetzern

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMontag, 22.04.2019

So viele Romane, so viele Autoren, so viele super Portraits im "Guardian". Über ein solches kam ich auf Marlon James, erster Jamaikaner, der den Man Booker Prize gewonnen hat und in diesen Tagen gerade seinen neuen Roman "Black Leopard Red Wolf" veröffentlicht hat (der den aufmerksamen Leser des ganz unten verlinkten Artikels vielleicht ein wenig an "Black Panther" erinnern wird, aber das ist für Marlon James egal, denn es geht um Afrika und Afrika ist groß und verträgt viele Geschichten, die einander auch mal ähneln dürfen). Momentan lese ich allerdings gerade auf Deutsch seinen fulminanten Booker-Prize-Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" (Heyne), die angesiedelt im Jamaika Ende der 1970er und polyphon multiperspektivisch (ist gar kein Ausdruck, der Roman hat ein vierseitiges Figuren-Register) in rasant kurzen Kapiteln um einen Attentatsversuch auf Bob Marley kreist. Man kommt gut in die 850 Seiten rein, dann erweisen sich allerdings die Slang-Idiome der verschiedenen Protagonisten zusehends als ein Problem für die immerhin fünf (!) Übersetzer ins Deutsche (unter ihnen immerhin die Houellebecq-Edelfeder Stephan Kleiner). Alles klingt ein bisschen zu gleich (aber immerhin berlinert keiner).

Was mich zu diesen Ostern bringt, die ich eigentlich damit verbringen wollte, zwei kurze Geschichten aus dem Deutschen ins Englische zu übertragen. Die eine ist von Uli Hannemann, die andere von mir, und beide sind für ein Autorenfußball-Turnier Anfang Mai in der Nähe der europäischen Kulturhauptstadt Matera in Italien, an dem wir mit der Autorennationalmannschaft teilnehmen werden. Uli warnte mich bereits, dass "die Zielsprache der Übersetzung immer die Muttersprache sein soll", und ich werde heute (Ostermontag) noch mein Bestes geben, habe allerdings bisher erst wenig mehr als den ersten Satz meiner eigenen Geschichte geschafft, der auf Englisch folgendermaßen lauten könnte:

"Basic problems of contemporary literature: Biggest bore is always somebody remembering his old stories..."

Meine Geschichte heißt "Possession de Ballon" und geht auf Deutsch folgendermaßen:

Possession de Ballon

Am langweiligsten ist es, wenn sich jemand erinnert – Grundprobleme der Literatur.

Dies ist die Geschichte, warum ich Fußball immer gehasst habe. Ich heiße Paolo und komme aus Andalusien. Die größte Angst meines Vaters war, dass sein Sohn homosexuell werden könnte. In der Welt meines Vaters war man nicht homosexuell, sondern wurde es. Also – immer noch in der Welt meines Vaters – schickte er mich schon früh zum Fußballtraining, damit sein Sohn keine Schwuchtel, keine Tucke, kein warmer Bruder wurde. Die Welt des Fußballs sollte mich davor bewahren: Zweikämpfe, Kopfbälle, Hackentricks. Mein Vater selbst war eher ein schmaler Mann, fast schon ein zarter Fall. Ein Halbitaliener, der in meiner Heimatstadt mit mäßigem Erfolg die Dritten Herren von Real Betis Sevilla trainierte. Fußball in Andalusien: viel Gescherze und Sich-Anfassen von Männern unter der Dusche. Mein Vater lehrte hauptsächlich typisch spanisches possession de ballon, weil er nicht die Nerven für den italienischen catenaccio besaß, und konnte mir schon in meiner Jugend nicht mehr viel beibringen. Denn ich war ein Torwart-Talent und schaffte es sogar bis in die zweite Mannschaft der Béticos, bevor ich die Lust verlor, hinschmiss und mich Ostern vor drei Jahren ganz anderen Dingen zuwandte.

Denn mit Anfang zwanzig hätte ich mich gern an meinem Vater gerächt, indem ich mich nicht mehr für Fußball interessierte. Ich wollte lieber homosexuell werden – und darüber schreiben. Alles drei gelang mir nicht so richtig. Man kann sich sehr wohl weiter für etwas interessieren, das man eigentlich hasst, wenn wir jetzt mal über Fußball reden wollen. Eine Zeitlang verkehrte ich in den Schwulenbars von Andalusien, über die Grenzen Sevillas hinaus. Geheime Orte, in denen ich ein paar Homosexuelle kennenlernte, mit denen ich noch heute gut befreundet bin. Ich meine, ohne dass sexuell je was gelaufen wäre. Denn ich hatte es geschafft, mir selbst folgendes Geheimnis anzudichten: Nach außen hin lebte ich das – für andalusische Verhältnisse – glamouröse Leben eines homosexuellen ehemaligen Torwart-Talents (denken Sie an den jungen Iker Casillas, wenn dessen Leben eine ganz andere Wendung genommen hätte). Und heimlich unterhielt ich (wie der richtige Iker Casillas) eher heterosexuelle Beziehungen zu ein paar verschiedenen Frauen. Aber davon wusste niemand etwas außer uns, den paar verschiedenen Frauen und mir.

Ich schrieb einen geheimnisvollen Roman über dieses Leben: „Possession de Ballon“. Es war damals wichtig für mich, ein Geheimnis zu haben. Mir fiel auf, wie viele Bücher, Filme, Popsongs in unserer Kultur davon handeln. Twin Peaks, Akte X, Karlsson vom Dach. Der Zuschauer, Leser oder Zuhörer will mit dem Erzähler mitfiebern, ob er das Geheimnis errät oder ob das Geheimnis aufgedeckt wird. Denn darum geht es letztlich immer: Dass alle ein Geheimnis brauchen. Und dass gleichzeitig niemand ein Geheimnis aushalten kann. Am Ende muss das Geheimnis verraten werden … - außer vielleicht in Twin Peaks, aber das mag einfach daran liegen, dass die Macher beim Schreiben des Drehbuchs langsam den Verstand verloren haben.

Ich habe lange darüber nachgedacht, beim Schreiben meines Romans „Possession de Ballon“. Und als ich ihn fertig hatte, tatsächlich einen kleinen andalusischen Verlag gefunden hatte und er sogar von meinem Vater gelesen worden war, dachte ich: Jetzt hast du dein Geheimnis verraten. Wie all die anderen Serienkiller, FBI-Leute, Crackhuren und Alkoholiker in der westlichen Welt unserer Erzählkultur auch.

Aber als mein Buch „Possession de Ballon“ letztes Ostern rauskam, wurde es kein Riesenerfolg, schon gar nicht über die Grenzen Andalusiens hinaus. Und dann war es alles gar nicht mehr so schlimm. Nicht so schlimm auf diese Art, mit der ein junges Torwart-Talent sich nachts über die eigene Schlaflosigkeit hinwegtrösten muss, weil er nicht aufhören kann, nachzudenken – über den letzten Gegentreffer, sein Leben, die eigene Heterosexualität.

Was ich eigentlich meine: Am Ende guckt man doch wieder mit dem eigenen Vater Fußball. Vielleicht nicht mehr im Stadion die Spiele von Real Betis, aber sehr wohl im Fernsehen die Champions League und die clásicos. Vater und Sohn nebeneinander auf dem Sofa, ganze Abende lang vollkommen verschiedene Spieler bevorzugend (wie Sie sich vorstellen können). Ich kann nicht sagen, dass ich nennenswerte Erinnerungen an auch nur ein einziges dieser im Fernsehen verfolgten Matches hegen würde. Und ich kann auch nicht sagen, dass ich dabei das Gefühl gehabt hätte, meine Zeit zu verschwenden.

- Frohe Restostern.


Eine kurze Ostergeschichte ohne sieben Morde, aber mit sechs Übersetzern

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