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Literatur

Borges alone (can't stop the fadin)

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelDienstag, 23.02.2021

Freitagnachmittag letzte Woche war eigentlich noch viel zu erledigen. Das Portrait über den SPIEGEL-Bestseller-Autor, mit dem ich gefühlt eine Woche lang im Volkspark Friedrichshain spazieren gewesen war, um dann noch mal gefühlt eine Woche lang mit ihm zu telefonieren (während wir beide im Hintergrund Australian Open guckten), bedurfte einer letzten, aber grundlegenden Kürzung, Überarbeitung oder gleich kompletten Umschreibung. Und der eigene Roman könnte auch mal wieder ein neues Kapitel vertragen. Statt für eine dieser Tätigkeiten Schwung zu holen, landete ich irgendwie (natürlich Internet) beim neuen Song der Tindersticks und fiel sofort hinten von der Schaukel runter, schrieb an dem Tag kein einziges Wort mehr.

Die Tindersticks mochte ich noch nie besonders. Zu melancholisch, zu langsam, zu gewollt. Aber die Stelle in den Sopranos, wo Tony depressiv nicht aus dem Bett kommt und dazu Tiny Tears läuft, ist natürlich überzeugend. Und ich hatte in der SZ eine Kurzkritik über ihre neue EP Distractions gelesen: "Das erste Meisterwerk des Post-Maskulinismus". Genau mein Thema, warum also nicht mal reinhören.

Die Single heißt Man Alone (Can't Stop The Fadin) und ist 11 Minuten lang (höre unten). Stuart Staples singt, dass er nicht mehr gierig auf den Himmel ist (im naturalistischen, nicht religiösen Sinne) und in mantrahafter Wiederholung über das Zurückfallen in die Großstadt, das Zurückfallen in dieses Leben. Die treibende Basslinie begleitete mich in den unverdienten Feierabend eines Lebens mit Literatur.

(Als ich den Song am nächsten Morgen meiner Frau vorspielte, fand sie ihn sofort scheiße. Sie wolle keine Männer-Clubmusik zum Frühstück hören – ich wußte, was sie meinte.)

Montagvormittag dieser Woche saß ich auf eine Morgenzigarette im Park und versuchte, mich an das Wochenende zu erinnern. Ich war in einen weatherlag gefallen (vom Winter direkt ins Frühjahr), alle meine Favoriten hatten in sämtlichen Sportarten verloren (FC und Medvedev) und nur ein Interview von Mario Vargas Llosa mit Jorge Luis Borges, Auch Lesen ist eine Art zu leben, hatte es rausgerissen.

Man erfährt, dass Borges in seiner gesamten Bibliothek nicht ein einziges Buch von oder über sich selbst stehen hat (super). Und dass er seine Katze nach der Katze von Lord Byron benannt hat, "Beppo" (wofür man ihm sofort eine reinhauen möchte). Insgesamt dennoch ein großer Trost, wie angenehm ruhig und erschöpft lakonisch Borges auf sein Leben zurückblickt:

Auf den Verlust seines Vermögens (er stammt aus einer reichen Militär-Familie). Auf die Möglichkeiten des Romans (den Wahnsinn, etwas auf 500 Seiten auszuwalzen, was sich in einem Satz sagen ließe). Darauf, dass er eigentlich ein "spencerscher Anarchist" ist, der die Souveränität des Einzelnen gegen den Staat verteidigt – und der trotzdem nicht weiß, ob "dieses Land der Demokratie oder der Anarchie würdig ist".

Oder auf das Gefühl, sein Leben mit Lesen verbracht zu haben:

Ich erinnere mich an einen Satz von Ihnen: «Vieles habe ich gelesen und weniges gelebt», was einerseits sehr schön ist, aber auch wehmütig klingt . . .

Traurig.

Man könnte meinen, Sie bedauern es.

Das habe ich mit dreissig geschrieben und nicht gemerkt, dass auch Lesen eine Art zu leben ist.

Aber verspüren Sie keine Sehnsucht nach Dingen, die an Ihnen vorbeigegangen sind, weil Sie so viel Zeit Ihrem rein geistigen Leben gewidmet haben?

Das glaube ich nicht. Auf Dauer erlebt man ja im Grunde alles, und wichtig sind nicht die Erfahrungen an sich, sondern was man daraus macht.

An der Stelle musste ich an eine schöne Passage aus Ayad Akhtars Homeland Elegien denken: Der junge Akhtar will Autor werden und wird dafür von der Familie zu seiner Tante geschickt, einer Literaturprofessorin, die ihn vor diesem Leben ausdrücklich warnt. Vor allem dem Lesen: ein mit Lesen verbrachter Tag könne sich komplett verschwendet anfühlen. Aber, fügt sie hinzu: Ein mit Lesen verbrachtes Leben könne trotzdem ein glückliches sein.

Ich stehe von der Parkbank auf und fotografiere das Graffito auf dem Zaun, dem ich fünf Minuten lang rauchend gegenübergesessen hatte: "Christ. Sancho." - What does it even mean? (... Sachen, die in Berlin im öffentlichen Raum stehen.) Englisch ausgesprochen klingt es fast wie ein gutes Omen, für die neue Woche mit Literatur.


Borges alone (can't stop the fadin)

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 4 Jahre

    dass auch Lesen eine Art zu leben ist... ach Borges. miss him

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