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Fundstücke

Beschmutzt man die Menschen im Osten, wenn man die DDR einen Unrechtsstaat nennt? Ganz im Gegenteil.

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMittwoch, 09.10.2019

30 Jahre nach dem Mauerfall wird mal wieder darüber gestritten, ob man die DDR einen Unrechtsstaat nennen darf. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil niemand bezweifelt, dass die DDR eine Diktatur war – auch nicht Bodo Ramelow (Linke) und Manuela Schwesig (SPD), die die Debatte angestoßen haben und die beide "nur" den Begriff des "Unrechtsstaats" ablehnen.

Wie aber soll man sich das vorstellen: eine Diktatur, die Menschen an ihrer Grenze erschossen hat, Bürger wegen Nichtigkeiten einsperrte, Sänger aufgrund kritischer Texte auswies, die ein gigantisches Spitzelsystem unterhielt, aber bei all dem kein Unrechtsstaat gewesen sein soll?

Während taz-Autorin Julia Lorenz die Diskussion an "Historikerinnen und Demokratietheoretiker" delegieren will und sich in die Unentschiedenheit des "Einerseits ... Andererseits" flüchtet, lehnt Vladimir Balzer im Deutschlandfunk den Begriff ab, weil er Diskussionen abtöte. Viele Menschen in Ostdeutschland sähen in ihm nur eine Überheblichkeit der Westdeutschen.

Schon der letzte Punkt stimmt so nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man sich darunter eine klare Mehrheit vorstellt. Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Berliner Morgenpost hält fast genau jeder zweite Ostdeutsche die DDR für einen Unrechtsstaat (im Westen sind es achtzig Prozent).

Auf mich machen einige Kommentare den Eindruck, dass "die Ostdeutschen" per se vor Kritik geschützt werden sollen. Dabei wird übersehen, dass es "die Ostdeutschen" gar nicht gibt. Wie fragmentiert die ostdeutsche Gesellschaft ist, sollte seit den Protesten des Jahres 1989 klar sein.

Empfehlen möchte ich hier einen kurzen Kommentar von Cerstin Gammelin aus der SZ, der mit einer treffenden Bemerkung endet:

Man beschmutzt also nicht die Bürger im Osten, wenn man die DDR einen Unrechtsstaat nennt. Aber man beschmutzt den ungeheuren Mut derjenigen, die den Unrechtsstaat zu Fall gebracht haben, wenn man ihn nicht so nennt.

Beschmutzt man die Menschen im Osten, wenn man die DDR einen Unrechtsstaat nennt? Ganz im Gegenteil.

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Kommentare 4
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 5 Jahren

    Natürlich war die DDR kein Rechtsstaat, aber hier geht es um die Gleichsetzung der Nazi-Gewaltherrschaft nicht mit der Stalin-Diktatur, was schon nicht richtig klappt, sondern mit der DDR.

    Treffend fand ich die Bemerkung von Thomas Sandkühler, Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin:

    Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist rechtsgeschichtlich (via Radbruch-Formel) eindeutig mit dem NS-Staat verknüpft. Als analytische Kategorie stößt er schon dort auf Grenzen und tut es vollends im Blick auf die DDR, wie die Mauerschützenprozesse gezeigt haben. Wenn der Begriff aber zur wissenschaftlichen Analyse nicht taugt, ist er ein polemischer Kampfbegriff, der das Verständnis der SED-Diktatur nicht erleichtert, sondern erschwert. Die Debatte krankt daran, dass nicht klar gesagt wird, was mit dem Begriff Unrechtsstaat bezeichnet werden soll - das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit, der Unrechtscharakter der Rechtsordnung, das Fehlen von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat? In einer ziemlich problematischen Lesart entfaltet der Begriff des Unrechtsstaats entlastende Wirkung: dann nämlich, wenn der Zwangscharakter der Rechtsordnung so stark betont wird, dass die Verantwortung des Einzelnen zurücksteht.

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 5 Jahren · bearbeitet vor 5 Jahren

      Ich denke nicht, dass es bei den derzeitigen Äußerungen um eine Gleichsetzung mit dem NS-Regime geht, was auch absurd wäre, sondern einzig um eine Debatte über die DDR - vor dem Hintergrund des Wahlkampfes in Thüringen. Der Begriff stammt übrigens aus dem 19. Jahrhundert. Er ist also älter als jene Formel, die dann viel später von Gustav Radbruch geprägt wurde.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 5 Jahren

      @Dirk Liesemer Danke für den Hinweis auf die Wurzel im 19. Jahrhundert. Auf diese wird auch im Wikipedia-Beitrag hingewiesen, aber auch dort taucht die Gleichsetzung gleich zu Beginn der Erläuterung auf:
      https://de.wikipedia.o...

      In dem von Dir empfohlenen Kommentar liegt diese indirekt ebenso vor:
      "Im Westen haben sich Generationen von Nachkriegskindern mit der Schuld ihrer Eltern befasst, auch dagegen rebelliert. Im Osten hat das nie stattgefunden; dabei ist es dringend nötig, weil das alte Dogma unwidersprochen weiterlebt."

      Immerhin wiedersprochen vor 30 Jahren etliche dem Dogma - und zuvor und danach auch. Oder?

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 5 Jahren

      @Achim Engelberg Ja, ich denke, man kann 68 und 89 durchaus vergleichen.

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