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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Als um 1989 die bipolar geteilte Welt aus Ost und West zerbrach (die gar nicht so bipolar war?), hoffte man auf eine neue Weltordnung, in denen alle Staaten ähnliche Interessen hätten und daher friedlich miteinander Leben würden. Bekommen haben wir eine Weltunordnung, eine dramatische Unübersichtlichkeit der Welt mit vielen Krisen. In dem Interview mit der "FR" verwendet Carlo Masala dafür den aktuell viel diskutierten Begriff der Polykrise. Eine Definition und eine kritische Betrachtung findet man z. B. hier:
We define a global polycrisis as any combination of three or more interacting systemic risks with the potential to cause a cascading, runaway failure of Earth’s natural and social systems that irreversibly and catastrophically degrades humanity’s prospects…A global polycrisis, should it occur, will inherit the four core properties of systemic risks—extreme complexity, high nonlinearity, transboundary causality, and deep uncertainty—while also exhibiting causal synchronization among risks.
Hier auf piqd hat Eric Bonse auf die europäische Polykrise verwiesen. Masala geht davon aus, dass uns die Unübersichtlichkeit der Welt mit ihren verschiedenen vernetzten Krisen noch länger erhalten bleibt.
Zumindest so lange, bis das internationale System eine wie auch immer geartete neue machtpolitische Balance findet. … Sowohl die Brics-Staaten, die Schanghai-Kooperation als auch die bilateralen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und China erkennen in der gegenwärtigen Struktur der internationalen Beziehungen eine Gefahr, da sie durch eine amerikanische Übermacht gekennzeichnet ist.
Aber, auch wenn alle darüber sprechen, dass eine Multipolarität mit global vier oder fünf Machtzentren eine gegenüber der Bi- oder Unipolarität wesentlich stabilere Ordnung sei: die Chinesen, so Masala, streben genau Letztere an. China will eine Ordnung, in der es machtpolitisch mindestens so stark ist wie die Vereinigten Staaten. Ich würde sagen, sie könnten auch mit ihrer Unipolarität leben. Was wohl auch vielen Amerikanern ihrerseits vorschwebt. Irgendwo zwischen diesen Vorstellungen oszillieren vermutlich die Politiken der nächsten Jahrzehnte.
Masala hat sicher recht, wenn er sagt, Chinesen würden in vieler Hinsicht anders ticken als alle anderen und speziell anders als Russland – auch wenn beide Mächte eine Revision des globalen Systems anstreben:
Sie (die Chinesen) sind wesentlich vorsichtiger, letzten Endes risikoaverser. Sie treten mitunter ziemlich aggressiv auf, etwa mit den Island-Chaines, die sie anstreben, um ihre territorialen Ansprüche zu erweitern. Gleiches gilt für ihre Drohungen gegenüber Taiwan. …. Aber sie sind nicht so risikofreudig und hazardeurmäßig wie die Russen, die ja in jedes strategische Vakuum vorstoßen wollen, das die USA oder Europa irgendwo hinterlassen.
Man hat in der Tat den Eindruck, dass 'die Russen' nicht über den Preis ihres Handelns nachdenken. Im Prinzip hat Putin sein Land auf lange Zeit aus dem Rennen um globale wirtschaftliche und politische Macht geschossen.
Einen Hinweis finde ich im Interview noch interessant. Er betrifft den Umgang unserer Demokratien mit autoritären Staaten:
Ich sage nicht, dass man nicht nach Demokratie strebende Menschen in Staaten unterstützen soll, diplomatisch, ökonomisch, politisch. Mein Punkt ist: Der Druck, den wir auf Staaten ausgeübt haben, sich zu demokratisieren, hat dazu geführt, dass diese Staaten sich gewehrt haben und noch autoritärer geworden sind. Damit tun wir den Demokratiebewegungen, die es in vielen Staaten dieser Welt gibt, keinen Gefallen. Wir verhindern eher, dass die sich entfalten können, in dem wir zu stark und zu massiv auf diese Staaten einwirken, sich zu transformieren.
Hoffen wir also, dass die globalen Akteure mittelfristig so etwas wie ein Fließgleichgewicht erreichen können. In dem der Austausch von politischen Handlungen, Handelsgütern und Kultur die Kräftekonstellationen in der Homöostase hält.
Eine Bemerkung noch zum Schluss zu Masalas Aussage, Putin handele auf Basis ihm zur Verfügung stehenden falschen Informationen vollkommen rational. Ein wirklich rationaler Akteur würde aber den Wahrheitsgehalt der Informationen vor dem Handeln prüfen. Etwas, was Autokraten nach Jahren der Macht in aller Regel nicht mehr tun. Sie sollten es eigentlich wissen, ein realistischer Blick in die Historie würde reichen. Sind sie also strukturell unfähig zur Rationalität?Quelle: Michael Hesse Bild: afp www.fr.de
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Danke, auch für den Zusatz aus ZEIT ONLINE.
Dort ist Masala der aktuelle Podcast-Gast: https://www.zeit.de/po...
Auch eine Krise, die sich u.U. lang-/mittelfristig eigentlich als ein positiver Pfad entpuppt. Die verspätete Entkolonialisierung Eurasiens!
"ZEIT ONLINE: Wäre es prinzipiell möglich, dass sich das System Putin auch wieder zurückfahren ließe, es also irgendwann wieder moderater wird? Oder gibt es realistisch keinen Rückweg aus solch einer Radikalisierung?
Behrends: Wir können alle nicht in die Zukunft schauen, aber ich habe das Gefühl, dass sich Putins Regime in der Endphase befindet. Ich sehe keine großen Perspektiven für ihn und seine Entourage. Wenn es Putins Anspruch war, den Staat nach der Jelzin-Ära wieder zu stabilisieren, autoritäre Strukturen zu restaurieren und Russlands Machtposition in der Welt wiederherzustellen, so ist ihm das in seinen ersten beiden Amtszeiten bis zu einem gewissen Grad gelungen. Doch in diesem Krieg ist er komplett gescheitert. Es gibt wahrscheinlich niemanden in den vergangenen 30 Jahren, der dem russischen Staat und der russischen Gesellschaft so sehr geschadet hat wie Putin in den letzten acht Monaten. Wir können uns noch gar keinen Begriff davon machen, was in dieser Zeit an wirtschaftlichen, militärischen und menschlichen Ressourcen verbraucht wurde. Insofern handelt es sich um ein Regime in einer akuten Krise. Gleichwohl besitzt es immer noch große Macht, mit der es immense Schäden anrichten kann. In der Ukraine, in Russland und potenziell auch bei uns. Zumal wir nicht wissen, wie lange dieser Todeskampf noch dauert.
ZEIT ONLINE: Ist es auch ein buchstäblicher Todeskampf für Putin selbst?
Behrends: Wenn man die russischen Führungsstrukturen und ihre Geschichte kennt, kann man davon ausgehen, dass Putin mittlerweile nicht nur um sein politisches, sondern um sein physisches Überleben kämpft. Er weiß vermutlich selbst, dass ein russischer Führer eine solche Niederlage nicht überleben kann. Deshalb muss er jetzt hoffen, dass Loyalität und Angst vorerst die Befehlskette stabilisieren und die russische Armee erst mal durch den Winter kommt. Ich glaube, im Kreml wird derzeit nur noch in Wochen und Monaten gedacht. Aus historischer Perspektive würde ich anmerken, dass sich in Russland nach einem verlorenen Krieg stets Veränderungen vollzogen haben. Man denke an den Krimkrieg 1856, die Revolution 1917 oder die Niederlage in Afghanistan 1989. Die spannende Frage lautet: Was geschieht nach einer potenziellen Niederlage im Ukraine-Krieg? Setzt die Implosion des Imperiums sich fort?
ZEIT ONLINE: Was denken Sie?
Behrends: Zahlreiche russische Kollegen sind der Meinung, dass in einer längeren Sichtweise die Auflösung des russischen Imperiums bereits nach 1917 begann – mit dem Verlust Polens, Finnlands und dem Bürgerkrieg. Ähnlich wie beim Niedergang des Britischen Empire handelt es sich um einen langfristigen historischen Prozess. Denkt man in solchen Zeiträumen, dann war das Ende der UdSSR 1991 eine weitere Etappe des Zerfalls. Folglich würden wir nun den nächsten erleben. Das ist ein Stück weit Spekulation, aber eine historisch durchaus begründete. Denn innerhalb der letzten 200 Jahre konnten wir einen Prozess beobachten, der weg von imperialen Ordnungen hin zu Nationalstaaten führte. Das hat in Westeuropa begonnen und dehnt sich seit 1917 auf Osteuropa, Zentralasien und den Kaukasus aus. Insofern beobachten wir gerade die verspätete Entkolonialisierung Eurasiens."
https://www.zeit.de/ku...